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Jugendliche vor dem Darwin-Award bewahren

Das Internet und soziale Netzwerke schaffen Phänomene. Manche verstehen wir, andere nicht. Wenn’s gefährlich wird, sollten wir nichtsdestotrotz eingreifen.

13.04.22 - 16:30 Uhr
Charles Darwin
Charles Darwin
Bild Pixabay

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Obwohl ich mit meinen 41 Lenzen nicht zur primären Zielgruppe von Tiktok gehöre, habe ich einen Account bei der Videoplattform. Den benutze ich lediglich passiv. In letzter Zeit vermehrt. Sie haben schon was, die unterhaltsamen Kurzclips, die einem in einer Endlosschleife zur Verfügung gestellt werden. Es ist ein buntes Potpourri an Katzenvideos, Tanzeinlagen, Perlen der humoristischen Weltbetrachtung und vielen Monologen mit mehr oder weniger Tiefgang – öfter weniger als mehr, wie ich finde. Ab und an lernt man sogar etwas. Ich habe den einen oder anderen hilfreichen Lifehack in den Tiefen des Ozeans Tiktok gefunden. Die Clips sind unterhaltsamer Zeitvertreib – manchmal gar Zeitfresser. Es passiert mir je länger desto öfter, dass ich in absoluter Unproduktivität auf meiner Couch liege und mich von Tiktok berieseln lasse. Was nicht interessiert, wird mit einem Swipe nach oben weggewischt. Der nächste Clip wartet schon darauf, im Format 9:16 um meine Aufmerksamkeit zu buhlen. Dabei treffe ich immer wieder auf sogenannte «Challenges».

Seit es soziale Netzwerke gibt, gehen damit auch gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene einher, die ihren Ursprung in digitalen Sumpf haben. Klassische Medien verlieren je länger desto mehr an Einfluss. Trends werden über Tiktok, Instagram und Co. lanciert und verbreitet. Gleichzeitig gehen die Phänomene mit Social-Media-Hintergrund aufgrund ihrer digitalen Verbreitung auch an den Konsumentinnen und Konsumenten analog verfügbarer Medien vorbei. Wenn die Trends dann im digitalen, vermeintlich echten Leben angekommen sind, reiben sich eben diese Generationen verwundert ihre analog wahrnehmenden Augen und fragen sich, ob die Jugend komplett ihren Verstand verloren hat.

Ein Beispiel zur Veranschaulichung sind die diversen «Challenges». Vor einigen Jahren wurde «Planking» zum Trend in den sozialen Netzwerken. Weltweit legten sich Jugendliche stocksteif mit dem Gesicht nach unten an irgendwelchen Orten hin, machten Fotos davon und veröffentlichten diese dann im Internet. Je länger der Trend anhielt, desto ausgefallener wurden die Orte, um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Irgendwann legten sich die Planker auch an gefährlichen Orten wie Hausdächern oder Brückengeländer in horizontaler Achtungstellung hin. In den analogen Medien wurde spätestens über das Phänomen berichtet, als Mitarbeitende eines Krankenhauses entlassen wurden, weil sie während der Nachtschicht Plank-Fotos gemacht hatten, statt sich um Patientinnen und Patienten zu kümmern, oder als ein Planker zu Tode stürzte, weil er betrunken auf seinem Balkongeländer plankte. Ein mancher Boomer hat sich damals wahrscheinlich ob der Absurdität gefacepalmt, als er in der Zeitung davon las.

Solche Internet-Challenges gibt es immer wieder, und es gab sie auch vor Tiktok schon. Man mag sich vielleicht erinnern: Harlem-Shake, Icebucket-Challenge und Mannequin-Challenge gelangten vor einigen Jahren in unsere Timelines. Aktuell versuchen sich Leute an der Sprite-Challenge und probieren, eine Flasche Sprite zu trinken, ohne dabei gorpsen zu müssen – was nur die wenigsten schaffen. Ich gebe zu, dass ich beim Betrachten dieser Videos immer mal wieder etwas lachen muss.

Neben den eher ungefährlichen Challenges gibt es auch solche, die komplett sinnentleert und gefährlich sind. Während der Coronapandemie machten Leute Videos davon, wie sie an diversen Oberflächen wie beispielsweise Türfallen, Haltegriffen im ÖV oder WC-Schüsseln in öffentlichen Toiletten leckten. Alles Kandidaten für den Darwin-Award, der Leute auszeichnet, die sich besonders dumm angestellt haben und dabei zu Schaden gekommen oder gar verstorben sind. Andere Challenges versuchen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Bei der Trashtag-Challenge ging es 2019 darum, in der Öffentlichkeit Abfall einzusammeln und Vorher-Nachher-Fotos davon zu posten.

Der langen Rede kurzer Sinn: Das Internet und soziale Netzwerke schaffen Phänomene. Manche verstehen wir, andere nicht. Sollten wir die Plattformen deswegen verteufeln und die gesamte Not unserer Zeit im Internet verorten? Ich denke nicht. Vielmehr sollten wir versuchen, Kinder und Jugendliche zu vernünftigen Persönlichkeiten heranwachsen zu lassen, ohne ihnen dabei die manchmal nötige Portion unterhaltsamen Blödsinns um jeden Preis vorenthalten zu wollen. Sollen wir sie davor bewahren, dabei den ersten Preis beim Darwin-Award zu gewinnen? Unbedingt. Das war aber auch früher schon so.

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