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Bleibende Erinnerungen

Vertreter jeder Generation können Ereignisse aufzählen, die sich ihrer gesamten Generation ins Bewusstsein gebrannt haben. Man erinnert sich daran. Man weiss genau, wo man war, als man davon erfuhr.

02.03.22 - 16:30 Uhr
Bild Pixabay

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Es war ein warmer Herbstnachmittag. Ich befand mich seit gut einem Monat in der Rekrutenschule (RS) bei der Fliegerabwehr (Flab) in Emmen bei Luzern und wurde zum Flab-Kanonier ausgebildet. Ich sass auf einer sieben Tonnen schweren Flab-Kanone, als ein Unteroffizier von der Kaserne her auf den Ausbildungsplatz kam und uns Rekruten erzählte, dass vor Kurzem ein Flugzeug ins World-Trade-Center in New York geflogen sei.

Weder ich noch meine Kameraden wussten diese Nachricht einzuordnen. Mehr als die kurzgefasste Info unseres Korporals hatten wir nicht. Die Ausbildungssequenz ging weiter. Smartphones gab es noch nicht und mich mit meinem Handy ins Internet (damals noch WAP) einzuloggen, hätte mich wohl mehr gekostet als den gesamten Sold, den ich in den 15 Wochen RS erhalten sollte. Nachdem der Ausbildungsnachmittag fertig war, gingen wir zurück in die Kaserne. Es hatte sich im Gang eine riesige Menschentraube gebildet. Alle versuchten, einen Blick auf den Röhrenfernseher – den gab es nur im Speisesaal der Unteroffiziere – zu werfen. Dort lief die Sondersendung des Schweizer Fernsehens. Ich sah zum ersten Mal die Bilder der beiden Linienflugzeuge, die ins World-Trade-Center krachten. Diese Bilder zogen mir den Boden unter den Füssen weg. Ich fragte mich, ob und wie dieses surreale Horrorszenario einen Einfluss auf die Welt und mein künftiges Leben haben würde. Am Abend wurden wir vor unseren Schlafsälen darüber informiert, was sich in den vergangenen Stunden in Amerika zugetragen hatte. Der Beamer im Filmsaal war ausgestiegen und darum konnten wir die «Tagesschau» nicht sehen. Ein Offizier las uns stattdessen bestätigte und neutrale Meldungen aus der Tagespresse vor. Die ganze Tragweite von 9/11 war wohl aber auch da nur den wenigsten Anwesenden wirklich bewusst.

In den kommenden Tagen und Wochen und Monaten prasselte via Zeitungen, TV und Radio eine Unmenge an Informationen auf mich ein. Informationen, die Zusammenhänge herstellten, erklärten und ausführten, wie es zu diesem schrecklichen Ereignis hatte kommen können und mit welchen Folgen man rechnen müsse. Mit der Zeit machten auch die ersten Witze, Verschwörungstheorien und vermeintliche Heldengeschichten zum Thema die Runde – und machen sie auch heute noch.

Vertreter jeder Generation können ein paar Ereignisse aufzählen, die sich ihrer gesamten Generation ins Bewusstsein gebrannt haben. Man erinnert sich daran. Man weiss genau, wo man war, als man davon erfuhr. Ich erinnere noch daran, wie mir mein Vater davon erzählte, wie er sich 1963 ein neues Autoradio gekauft und eingebaut hatte. Sein ganzer Stolz damals. Das Erste, was er aus den Lautsprechern hörte, war die Meldung, dass John F. Kennedy erschossen worden war. Als Achtjähriger wunderte ich mich eines Abends, warum meine Eltern die «Tagesschau» wie gebannt verfolgten. Mein Vater sass mit Tränen in den Augen auf dem Sofa. Es war der 9. November 1989. Die Berliner Mauer war gefallen. Ähnlich musste es ganzen Generationen gegangen sein, als am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger in Sarajevo erschossen wurde, als am 1. September 1939 Nazi-Deutschland in Polen einfiel und als am 7. Dezember 1941 Pearl Harbour angegriffen wurde. Man weiss genau, wo man war, als man davon erfuhr.

In der Nacht auf den 24. Februar dieses Jahres hat Russland einen Kriegseinsatz in den ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk angeordnet. Täglich prasseln seither neue Informationen auf uns ein, versuchen einzuordnen, stellen Zusammenhänge dar, erklären, wie es dazu hat kommen können und mit welchen Folgen man rechnen muss. Die ersten Memes sind auch schon im Umlauf. Erste vermeintliche Heldengeschichten machen die Runde und auch mit Verschwörungstheorien und offensichtlichen Falschmeldungen haben wir bereits zu tun. Es werden noch viele folgen.

Eine neue Generation hat ein Ereignis, an das sie sich vermutlich ewig erinnern wird.

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