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Kursbuchtod

Christian
Ruch
24.06.17 - 11:23 Uhr

In «Ruchs Rubrik» beleuchtet Christian Ruch Bedenkliches, Merkwürdiges und Lustiges aus der Region Südostschweiz. Das alles einmal wöchentlich und mit viel Esprit und Humor. Ob Politik, Kultur, Wirtschaft oder Sport – in Ruchs Rubrik hat all das Platz, was sich mit einem Augenzwinkern betrachten lässt.

Uns dräut der Tod grosser Schweizer Literatur: Ab Dezember gibt es kein gedrucktes Kursbuch mehr, sondern nur noch öde PDFs unter www.fahrplanfelder.ch. Was irgendwie tönt nach Erdbeerfeld zum selber Pflücken. Zugegeben: Die literarische Qualität des Kursbuchs liess mit dem Taktfahrplan leider erheblich nach, denn die einst so spannende Handlung bekam etwas Vorhersehbares. Man ahnte: Wenn um 8.39 Uhr ein Zug von Dottikon-Dintikon nach Boswil-Bünzen fährt, auch um 9.39 einer fahren würde. Gleichwohl stehen Worte wie «Halt auf Verlangen» für die ganze Dramatik des Lebens, den Drang auszusteigen, der Liebsten in die Arme zu fallen, ihr nicht mit tränenbenetztem Taschentuch aus dem fahrenden Zug zuwinken zu müssen, weil man vergessen hat, den Halt zu verlangen.

Die korrekte Kursbuchlektüre war ohnehin nur dem eingeweihten Kreis von uns Ferrosexuellen vorbehalten. Darum schmerzt es uns, dass heute jeder Däpp mit Äpp weiss, wann der nächste Zug fährt. Früher musste man entweder zum Schalter oder um unsere Expertengunst buhlen. Das gab uns unerhörte Macht, auch finanziell: Wollten Mami und Papi den Besuch der suboptimal geliebten Verwandtschaft in Gestalt von Tante Käthi und Onkel Ruedi etwas hinauszögern, liess man sich via Taschengeldaufstockung bestechen und suchte Onkel und Tante eine Verbindung mit zehn Mal Umsteigen und nur Regionalzug raus.

Alles vorbei! Die Käthis und Ruedis von heute sind erschreckend eigenständige Senioren. Internetaffin tummeln sie sich auf Facebook, wenn sie es ganz toll treiben sogar auf Tinder, und wissen dank der unseligen Funktion «Letzte Verbindung» ohne dass wir es verhindern könnten, wie lange sie uns heimsuchen können. Darum mein Appell: Kaufen Sie die letzte Kursbuch-Ausgabe und schenken Sie Ihren Kindern das Vermächtnis einer wunderbaren Zeit. Denn sonst werden sie nie erfahren, dass Sätze wie «Wartet nicht auf verspätete Ankünfte» nicht nur grossartige Schweizer Literatur sind, sondern einst sogar den Familienfrieden verlängerten.

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